28.06.2022, 9.30 Uhr, N015/N016, das waren die Rahmenbedingungen für den Vortrag von Harry Nussbaum. An die hundert Köpfe schauten alle in dieselbe Richtung, nach vorne zum Tisch, wo der ältere Herr saß, der ihnen gleich seine Geschichte erzählen würde. Auf den Stühlen saßen die Schüler und Schülerinnen der KS1, sowie interessierte Lehrer und Lehrerinnen. Es war dunkel im weiträumigen Raum, die Rollläden waren heruntergelassen und versuchten die Sommerwärme auszusperren. Herr Köpfer begrüßte Herrn Nussbaum, der schon zum sechsten oder siebten Mal das Gymnasium Überlingen besuchte, um der nächsten Generation seine Erlebnisse von der Flucht seiner Familie vor den Nationalsozialisten zu schildern. Die nächsten zwei Stunden gehörten dem 86-jährigen Zeitzeugen und seinen Erinnerungen.

Und dann legte Herr Nussbaum los, anhand von Bildern erklärte er uns den geschichtlichen Hintergrund und baute darin seine persönlichen Erfahrungen ein.

Er wurde 1936 geboren und erlebte den Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich. Die Einschränkungen der Juden im öffentlichen Leben wurden der Familie bewusst, als der Vater folgendes erlebte: Auf dem Weg zur Arbeit ging sein Vater immer in ein Café, doch eines Morgens bekam er keinen Kaffee mehr.

Auch erzählte Herr Nussbaum von seiner Mandel-OP. Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus bekam er die Anweisung, nur Weiches zu essen. Also kaufte sein Vater ihm Kartoffelpüree. Der kleine Harry bekam das Kartoffelpüree und dann entdeckte er darauf ein Stück geschmolzene Butter. Er hatte schon lange keine Butter mehr gegessen, weil die Familie während dieser Zeit hauptsächlich von Kartoffeln lebte. Noch heute erinnert er sich an diesen Geruch, den Geruch der geschmolzenen Butter.
Als die Familie erfuhr, dass es in der italienischen Besatzungszone für Juden sicherer sei, beschloss die Familie zu flüchten. Dem kleinen Harry schärften sie ein, Niemandem davon zu erzählen. Als er am Nachmittag mit einem Freund spielte, wollte er, dass sein Freund ihm sein Spielzeug zurückgibt, weil er ja am nächsten Morgen weggehen würde. Sein Freund erzählte alles seiner Mutter. Daraufhin fragte die Mutter Harrys Eltern aus, ob sie weggehen würden. Harrys Eltern taten es mit kindlichen Fantasien ab, später wurde Harry zurechtgewiesen. In einer Nacht 1943 machten sie sich auf den Weg.

Ein anderes Mal flüchteten sie vor Soldaten und rannten auf einen Wald zu. Das war das einzige Mal, dass er Schüsse an den Ohren vorbeisausen hörte, denn so etwas vergisst man nicht, sagte er.

Herr Nussbaum, seine Eltern und seine Schwester überlebten mit viel Glück, seine Tante und seine Cousine wurden in Auschwitz vergast.

Harry Nussbaums Tochter fragte ihn einmal, ob er seine Erlebnisse wenigstens für seine Enkelkinder aufschreiben könnte. Er konnte es erst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, seine Erinnerungen wurden veröffentlicht. Zeitgleich schrieb auch seine Schwester Hannah, aber nur für ihre Enkelkinder ihre Erinnerungen auf.

Nach dem Vortrag gab es die Möglichkeiten Fragen zu stellen. Wer wollte konnte sich das zweisprachige – französisch/deutsch – Buch „Wir haben überlebt“ mitnehmen, indem Herr Nussbaum über seine Kindheit berichtet.

Für den Vortrag vom Zeitzeugen Harry Nussbaum gab es tosenden Applaus. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen. Dennoch ist es wichtig, dass diese Erlebnisse an die nächsten Generationen weitergegeben werden.

Von: Stella Rieke-Zapp